10.08.2025
Eine jüdisch-sozialdemokratische Einordnung zu Krieg, Frieden und Verantwortung seit dem 7. Oktober
Die vergangenen fast zwei Jahre seit dem 7. Oktober 2023 waren für Jüdinnen und Juden weltweit die schlimmste Zeit seit der Shoah. Der brutale, genozidale Terror der Hamas traumatisierte nicht nur Israelis, sondern auch Jüdinnen und Juden in der Diaspora.
Allein in unserer Gemeinde suchten fast 500 Menschen Unterstützung bei ESRA, um die Ereignisse zu verarbeiten – zusätzlich zu all jenen, die im privaten Umfeld Hilfe fanden. Während Menschen in Israel ihre Häuser verlassen mussten, zu Binnenflüchtlingen wurden und sich Tag für Tag vor dem anhaltenden Raketenbeschuss der Hisbollah, der Hamas, der Huthis und des Iran in Sicherheit bringen mussten, waren jüdische Menschen in der Diaspora antisemitischen Übergriffen ausgesetzt. Zugleich wurden sie mit einer Mehrheitsgesellschaft konfrontiert, in der selbst die Wohlmeinendsten kaum das Ausmaß der Erschütterung verstanden.
Trotz dieser unsäglichen zwei Jahre dürfen unsere Herzen nicht verhärten und unser Verstand nicht stumpf werden. Herzlosigkeit und Mangel an Urteilskraft dürfen nicht Teil jüdischer Identität sein. Denn welche Zukunft hätte eine jüdische Identität, die so geformt ist?
Unsere Grundsätze als AVODA - Bund Sozialdemokratischer Jüdinnen und Juden
- Menschenrechte sind unteilbar
Deshalb müssen alle Geiseln der Hamas sofort freigelassen und nach Israel zurückgebracht werden. Ihr Martyrium muss ein Ende haben. Ebenso müssen der Krieg und das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung in Gaza unverzüglich beendet werden. Israelis und Palästinenser haben gleichermaßen ein Recht auf Frieden, Sicherheit und die uneingeschränkte Geltung ihrer Menschenrechte.
Der Terror der Hamas und ihre Herrschaft dürfen keinen weiteren Tag andauern. Zugleich darf der politische Machterhalt von Benjamin Netanjahu nicht länger notwendige Schritte für Frieden und Sicherheit blockieren. Alle politischen Kräfte weltweit sind gefordert, sich diesen zerstörerischen Tendenzen entschieden entgegenzustellen, um das Leid zu beenden.
- Selbstbestimmung ist nicht teilbar
Daraus folgt unser uneingeschränktes Eintreten für eine Zwei-Staaten-Lösung. Das palästinensische Volk hat – wie auch das jüdische (!) – ein Recht auf eine eigene nationale Heimstätte.
Uns ist bewusst, dass diese Lösung angesichts der Ereignisse seit dem 7. Oktober in weiter Ferne scheint. Dennoch halten wir daran fest, gerade auch als Jüdinnen und Juden. Unsere Geschichte zeigt, dass wir oft vor scheinbar aussichtslosen Situationen standen – und dennoch hat die Hoffnung gesiegt.
Es wäre ein Fehler, jetzt die Hoffnung aufzugeben. Hätte David Ben Gurion ähnlich defätistisch gedacht, wäre der Staat Israel nie gegründet worden. Eine Zwei-Staaten-Lösung ist möglich. Sie wird nicht ohne Anstrengung, nicht ohne schmerzhafte politische Kompromisse zu erreichen sein, aber sie bleibt notwendig. Schon allein aus Sorge um die Sicherheit Israels ergibt sich die Notwendigkeit, endlich eine gerechte Lösung für das palästinensische Volk zu finden. Ohne Selbstbestimmung für Palästinenserinnen und Palästinenser wird es keinen dauerhaften Frieden für Israel geben können.
- Solidarität bedeutet auch Kritik
Wir stellen uns gegen doppelte Standards im Umgang mit Israel. Wer Israel anders misst als andere Staaten, handelt antisemitisch.
Gerade aber wenn einem Israel am Herzen liegt, darf man zu Fehlentwicklungen nicht schweigen. Auch im persönlichen Umfeld gilt: Wer Freundschaft ernst meint, muss Missstände benennen. Ein Freund, der still bleibt, wenn man auf Abwege gerät, handelt nicht im Sinne echter Freundschaft.
Aus unserer Sicht ist die israelische Politik nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 auf einem problematischen Kurs. Die aktuelle Regierung umfasst rechtsextreme und faschistische Kräfte. Wer diese Ideologie ablehnt, darf sie nicht aus falsch verstandener Solidarität decken oder relativieren. Die Verantwortung für deren Einbindung liegt bei Premierminister Netanjahu.
Es ist die Pflicht jüdischer Repräsentantinnen und Repräsentanten – auch in der Diaspora –, diese Realität klar zu benennen. Nicht nur genozidale Rhetorik, sondern auch politische Entscheidungen und militärische Handlungen, die das Ziel oder die Folge ethnischer Säuberung, Vertreibung oder kollektiver Bestrafung haben, stehen im Widerspruch zu humanistischen Werten und verstoßen gegen die Grundprinzipien jüdischer Ethik.
- Die Gemeinde im Mittelpunkt
AVODA-Bund sozialdemokratischer Jüdinnen und Juden fühlt sich in erster Linie den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Österreich verpflichtet. Dieses Selbstverständnis sollten auch alle offiziellen Vertreterinnen und Vertreter der IKG teilen.
Es ist nicht Aufgabe von IKG-Repräsentantinnen und Repräsentanten, als Sprachrohr der israelischen Regierung oder Botschaft zu fungieren. Ebenso wenig sollten sie als politische Verteidiger einzelner Regierungspolitiker auftreten.
Unsere Gemeinde ist vielfältig – religiös und säkular, politisch links wie rechts, mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Tradition. Diese Heterogenität umfasst auch unterschiedliche Sichtweisen auf den Israel-Palästina-Konflikt, auf den derzeitigen Krieg und auf das Verhalten der israelischen Regierung seit dem 7. Oktober 2023 und davor.
Viele Jüdinnen und Juden in Österreich teilen die in diesem Text formulierten Gedanken. Im Sinne einer echten Einheitsgemeinde ist es daher Aufgabe der IKG, auch diese Stimmen sichtbar zu machen und zu berücksichtigen.
Peter Munk | Dwora Stein | Marie-Therese Reisenauer